Der Bellemann kündigt unser Kommen an: Zweimal schüttelt er kräftig die kiloschwere Glocke in seiner Hand, dann drängeln wir uns durch die schmale Tür in den „Gepoeierden Ezel“, eine urige Kneipe in der Schuddevisstraat. Der Wirt im „Gepuderten Esel“ zapft wie am Fließband dunkles Bier in riesige Gläser. Dazu reicht er uns kühlen Genever in fingerhohen Stamperln, einen Wacholder-schnaps, der berauschend köstlich schmeckt.
„Alcol, Alcol, we leven op alcol“, sagt der Fließbandarbeiter hinter der Theke und zapft lächelnd schon das nächste Bier. Ja, die flämische Metropole Gent lebt ganz gut vom Alkohol, schließlich gibt’s hier 600 Kneipen, wo mehr als 150 Schnapsarten und an die 350 Biersorten die Wahl zur Qual und mächtigen Durst machen.

Unser Begleiter in der hoch zugeknöpften blauen Uniform eines ehemaligen Stadtausrufers, mit rotweißen Bordüren auf den Ärmeln, einer dicken roten Kordel über der linken Schulter und einer topfartigen Schirmmütze auf dem bulligen Kopf, schwingt wieder zweimal die furchtbar laute Glocke. Er mahnt uns zum Aufbruch, es wird Zeit, auszutrinken.
Auf dem Programm der nächtlichen Kroegentocht, einem für Touristen organisierten Rundgang durch Gents Kneipen, stehen zehn Lokale zum Verkosten. Das erfordert neben einer trinkfesten Leber auch viel Stehvermögen.
Aber Gent, die alte Hauptstadt der Grafschaft Flandern, die ewig stolze Rivalin der Schwesterstadt Brügge, hat außer dem Belleman, hochprozentigem Genever und obergärigem Bier, natürlich mehr zu bieten – eine zauberhafte Szenerie, die ihresgleichen sucht: mittelalterliche Bauwerke, barockisierte romanisch-gotische Kirchen, alte Patrizierhäuser, Zunfthäuser mit atemberaubenden Giebeldächern und bunte Märkte. Und freiheitsliebende Bürger, die stets gegen die Obrigkeit rebelliert hatten, weil sie ihr Schicksal selbst bestimmen wollten.
Wer nach Gent kommt, begibt sich unweigerlich auf eine Wanderung durch die bewegte und oft auch blutige Geschichte dieses flämischen Juwels. Wo die Flüsse Schelde und Leie zusammenfließen, hatten sich schon die Kelten, Wikinger und Römer angesiedelt. Um 650 kam der heilige Amandus mit seinen Anhängern und gründete die Abtei St. Baafs, sein Freund Jan errichtete auf dem höchsten Platz in Gent, den Blandinusberg, die Abtei St. Pieters.
Das schmeckte den Bürgern wieder nicht und sie warfen Amandus in die Leie. Im Hundertjährigen Krieg schlugen sich die Genter Bürger auf die englische Seite und erklärten 1488 Philipp dem Guten einfach den Krieg, weil dieser die Steuern für Salz und Getreide erhöht hatte.
Die Rebellen an der Leie wurden noch rebellischer, als Kaiser Karl V., ein gebürtiger Genter, die Privilegien der Stadt mißachtete und eine Kriegssteuer für seinen Feldzug gegen Frankreich einhob. Die Genter verweigerten sich, der Kaiser beschuldigte sie der Illoyalität und des Aufruhrs, erklärte die Privilegien für nichtig, ließ die große Glocke, das Symbol der Freiheit, aus dem Belfort entfernen und die Grachten zuschütten. Außerdem mußten die Stadtväter mit einer Schlinge um den Hals ihn reumütig um Vergebung bitten.
Kein Wunder, daß in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Gent gegen Spanien aufmuckte, der Protestantismus und Calvinusmus Aufwind bekamen. Aber 1584 besetzten die Spanier Gent, die Bewohner mußten zum katholischen Glauben konvertieren, viele flüchteten in die Niederlande. Gent, das im 14. Jahrhundert nach Paris die größte Stadt nördlich der Alpen war, versank in die Bedeutungslosigkeit. „Es wuchs Gras in den Straßen von Gent“, vermerkte der Stadtschreiber.
Erst mit dem Aufkommen der Flachsindustrie im 18. Jahrhundert entwickelte sich das nun von den Franzosen beherrschte Gent zu einer der führenden französischen Industriestädte. Später, im unabhängigen Belgien, wurde Gent zur Hochburg der belgischen Arbeiterbewegung und flämischen Unabhängigkeit.
Heute ist Gent die viertgrößte Stadt Belgiens und der zweitgrößte Hafen. Wir spazieren über die St. Michaelsbrücke. Hier haben wir die bedeutendsten Baudenkmäler mit den berühmten drei Türmen von Gent im Visier: Da ist der Belfort, 95 m hoch, das Machtsymbol der Zünfte, dessen Rolandsglocke einst die Bürger zu den Waffen gerufen hatte; da ist die Sint-Niklaaskerk mit dem von vier Ecktürmen flankierten Vierungsturm, einem klassischen Beispiel für die Scheldegotik.
Und da ist auch die St. Baafskathedraal, in deren Taufkapelle sich das Meisterwerk der flämischen Brüder Hubert und Jan van Eyck befindet – der aus 22 Tafeln bestehende Flügelalter mit der Anbetung des Lamm Gottes. Meterhohes Panzerglas schützt das Polyptychon vor den transpirierenden Touristen aus alller Welt, die sich gegenseitig vorwärts schieben.
Abends, nach der Genter Waterzooi, einer Fischsuppe, und einigen Gläsern Himbeerbier, Trapistenbier und Kirschbier, machen wir eine Bootspartie durchs nächtliche Gent und hören dabei Geschichten über die dunklen Seiten der Stadtchronik: Vom Ritter Gereraard, dem Teufel, der die Leiche seiner Frau in der Krypta aufgegessen habe und später wegen eines Mädchens seinen Sohn ertränken wollte. Als wir dabei an der Teufelsburg vorbeigleiten, heitert uns der Kapitän auf – mit einem Schluck Genever.
(c) Georg Karp
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